Beitrag aus dem Magazin Body LIFE Medical, Ausgabe: September 2021

Eine sinnvolle Ergänzung der Therapie?

Zahlreiche Studien zeigen, dass Menschen mit körperlichen Einschränkungen – zum Beispiel Parkinson und Multipler Sklerose – von einem Training der Atemmuskulatur profitieren. Ein weiterer Vorteil: Auch Menschen mit eingeschränkten motorischen oder kognitiven Fähigkeiten können ein solches Training absolvieren.

Seit ein Team um Prof. Dr. Urs Boutellier an der ETH Zürich aufzeigen konnte, dass die Atemmuskulatur ein limitierender Faktor der körperlichen Leistung sein kann und dass eben diese Muskulatur durch gezielte Reize trainiert werden kann, ist das Atemmuskeltraining ein heiß diskutiertes Thema in der Forschung, aber auch in der Therapie und im Training. Wenn es um Studien rund um das Atemmuskeltraining geht, stehen häufig Themen im Fokus, die eine Leistungssteigerung bei den Athleten zum Ziel haben. Auch rund um das Thema „chronische Atemwegserkrankungen“ existieren mittlerweile relativ viele Studien. Ein Gebiet, das jedoch vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit bekommt, ist das Atemmuskeltraining bei Menschen mit körperlichen Handicaps und Erkrankungen, die nicht primär die Atemwege betreffen.

Dabei ist Thematik in der Praxis bereits wichtig geworden. Die Atemmuskulatur kann durch eine Vielzahl von Faktoren limitiert sein, weshalb der Einsatz von Atemtherapie und Atemmuskeltraining bei ganz unterschiedlichen Krankheitsbildern sinnvoll sein kann. Eine eingeschränkte Mobilität des Brustkorbs, Lähmungen oder die Ansammlung von Schleim in den Atemwegen sind nur eine kleine Auswahl der möglichen Gründe für den Einsatz von Atemmuskeltraining.

Eine trainierte Atemmuskulatur bewegt mehr als nur Luft

Es liegt in der Natur der Sache, dass für ein Thema, das nur wenige Menschen betrifft, auch weniger Mittel zur Forschung zur Verfügung stehen. In den bekannten Datenbanken finden sich also auch weniger Informationen rund um Studien zum Atemmuskeltraining bei Menschen mit Handicap als zu den oben genannten Themen. Was die vorhandenen Studien jedoch gemeinsam haben, ist, dass die Resultate des Atemmuskeltrainings weit über eine bloße Erleichterung der Atmungsfunktion hinausgehen. Eine 2020 publizierte Studie des Journal of Clinical Medicine ist ein gutes Beispiel hierfür: Bei Parkinson-Patienten wurden nach der Durchführung eines 12-wöchigen Krafttrainings für die Atemmuskulatur neben einer Verbesserung der Lungenfunktion auch eine verbesserte kardiovaskuläre Funktion und bessere funktionelle Ergebnisse festgestellt.1 Während die Erstgenannten selbstredend von großer Bedeutung sind, wird gerade auch eine Verbesserung im funktionalen Bereich von Patienten und Therapeuten sehr geschätzt. Die zitierte Studie konnte als erste zeigen, dass sich mit dem Atemmuskeltraining nicht nur bestimmte funktionelle Bereiche verbesserten (z. B. Abhusten, Sprech- und Schluckfunktion und damit die Lebensqualität), sondern dass nach der Therapie auch auf der UPDRS (Universelle Skala zur Verlaufsbeobachtung bei Morbus Parkinson) signifikante Verbesserungen erzielt werden. Unter dem Strich kann bilanziert werden, dass das Atemmuskeltraining ein Gewinn in der Therapie für Parkinson-Patienten darstellt. Auch für Patienten mit Multipler Sklerose konnte in einem Review neben den zu erwartenden verbesserten Lungenfunktionswerten eine gesteigerte Lebensqualität detektiert werden. Aus der Praxis gibt es gerade im Bereich mit Para- und Tetraplegikern regelmäßig Berichte von positiven Auswirkungen, die schwer in Zahlen auszudrücken sind, für Betroffene jedoch einen großen Gewinn an Lebensqualität darstellen.

Vielseitige Einsatzmöglichkeiten

Ein großer Vorteil des Atemmuskeltrainings ist die Tatsache, dass auch Personen mit eingeschränkten motorischen oder kognitiven Fähigkeiten in der Lage sind, ein solches Training durchzuführen. Es steht Anwendern und Therapeuten eine beachtliche Auswahl an Geräten für Atemmuskeltraining zur Verfügung. Bevorzugt in der Therapie eingesetzt werden Geräte, die eine Kombination von verschiedenen kontrollierten Trainingsformen ermöglichen. So sind Geräte auf dem Markt, die neben inspiratorischem und exspiratorischem Krafttraining auch ein Ausdauertraining mittels isokapnischer Hyperpnoe (kontrollierter CO2-Rückatmung) ermöglichen.

Fazit

Abschließend lässt sich festhalten, dass der Einsatz von Atemmuskeltraining in jedem Fall ein möglicher Weg ist – unabhängig von der Art des Handicaps. Es gibt zahlreiche Studien, die einen positiven Effekt auf verschiedene Parameter wie z. B. das kardiovaskuläre System und die Lebensqualität aufzeigen – und auch auf der praktischen Seite (siehe Interview) überwiegt das positive Feedback der Patienten. Gepaart mit vergleichsweise geringen Einstiegshürden und einem quasi inexistenten Risiko für Komplikationen ist das Atemmuskeltraining in jedem Fall eine prüfenswerte Option für die Ergänzung der bestehenden Therapie.

Bedeutend in Therapie und Prävention

PD Dr. sc. nat. Claudio Perret ist Leiter des Bereichs Sportwissenschaft in der Sportmedizin Nottwil – eines der 14 Swiss Olympic Medical Center (SOMC) in der Schweiz –, die ein umfassendes Angebot sportmedizinischer Dienstleistungen anbietet. Die Sportmedizin Nottwil ist zudem nationales Leistungszentrum für Rollstuhlsport und steht allen Sportbegeisterten offen, egal ob Rollstuhlsportler, Fußgänger, Spitzenathlet, Hobbysportler oder Einsteiger. Im Interview berichtet der Experte über den Einsatz des Atemtrainings und die Erfahrungen in der Praxis und erläutert, welche Vorteile Menschen mit Behinderung dadurch haben.

Dr. Corina Schaer: Herr Prof. Perret, wie sind Sie mit Atemmuskeltraining in Kontakt gekommen?

PD Dr. Claudio Perret: Während meiner Zeit an der ETH Zürich wurde der „Idiag Spirotiger“ entwickelt, das erste handelsübliche Gerät, welches ein Ausdauertraining der Atemmuskulatur ermöglichte. Im Zuge dessen bot sich die Gelegenheit, meine Dissertation zum Thema „Zur Bedeutung der Atmungsmuskulatur im Ausdauersport“ zu schreiben, die ich 2000 abgeschlossen habe.

Dr. Corina Schaer: Und wie begleitet Sie das Thema heute in Ihrem beruflichen Umfeld?

PD Dr. Claudio Perret: Im Rahmen meiner Tätigkeit als Sportwissenschaftler setze ich das Atemmuskeltraining gezielt ein sowohl in der Therapie als auch im Leistungsbereich. Wir haben vor ca. 20 Jahren mit dem Training angefangen und bieten heute für stationäre Patienten eine Atmungstrainingsgruppe an, bei welcher nach einem anfänglichen Check und der entsprechenden Einstellung der Geräte viermal pro Woche in einem Gruppensetting Atemmuskeltraining absolviert wird. Häufig führen die Patienten nach Abschluss der Erstrehabilitation das Training individuell zu Hause weiter durch.

Dr. Corina Schaer: Welchen Stellenwert haben diese Trainings für Sie und die Patienten?

PD Dr. Claudio Perret: Ich sehe das Training gerade bei Personen mit Querschnittlähmung als bedeutenden Teil der Therapie und Prävention. Leider ist es immer noch so, dass jeder vierte Querschnittgelähmte an Atmungskomplikationen meist infolge einer Lungenentzündung stirbt. Unsere retrospektive Datenanalyse hat gezeigt, dass Lungenentzündungen vermehrt bei Patienten mit tiefem inspiratorischem Maximaldruck auftreten. Hier können wir mit Atemmuskeltraining gezielt gegensteuern. Im Schnitt verlängert eine Pneumonie die Dauer des Spitalaufenthalts bei querschnittgelähmten Patienten um 27 Tage, was für den Patienten mühsam und allgemein mit hohen Gesundheitskosten verbunden ist. Durch das Training können wir hier vorbeugen.

Dr. Corina Schaer: Können Sie uns die konkreten Vorzüge des Atemmuskeltrainings für die Trainierenden nennen?

PD Dr. Claudio Perret: Im Sportbereich steht natürlich klar die Leistungssteigerung im Vordergrund, welche auch anhand zahlreicher Studien belegt werden konnte. Fast wichtiger sind aber auch viel alltäglichere Vorteile. Patienten berichten davon, dass sie weniger schnell außer Atem geraten, sich beim Sport besser fühlen und z. B. das Abhusten von Schleim einfacher fällt, wodurch Atemwegsinfekten vorgebeugt werden kann. Für Tetraplegiker erleichtert es auch einfach den Alltag – sie können ganze Sätze in gleicher Lautstärke sprechen, ohne Atem holen zu müssen, können während des Essens besser atmen und schlucken oder wieder besser Blasinstrumente spielen. Durch diese Vorteile zeigt sich auch eine hohe Disziplin bei den Trainings: Ein Patient macht z. B. seit mehreren Jahren jede Woche drei Trainings à 10 Minuten, fühlt sich fit und ist sehr glücklich damit.

Dr. Corina Schaer: Inwiefern ist das Atemtraining bei Personen mit Rückenmarksverletzungen anders als bei Personen ohne solche Verletzungen?

PD Dr. Claudio Perret: Querschnittgelähmte weisen oft eine stark eingeschränkte Atemfunktion auf. Bei Tetraplegikern beispielsweise ist die gesamte Ausatmungsmuskulatur gelähmt, was das Abhusten von Schleim schwierig macht und zu Komplikationen führt. Gerade in solchen Situationen ist es wichtig, die noch vorhandene Muskulatur zu trainieren, um das Niveau zu halten oder wenn möglich sogar zu verbessern, wobei natürlich viel tiefere Trainingsintensitäten als bei Fußgängern eingesetzt werden. Dennoch scheint die Intensität des Trainings wichtiger als die Dauer zu sein, um einen optimalen Trainingsreiz zu setzen.

Dr. Corina Schaer: Inwiefern hat das Atemmuskeltraining auch einen kardiovaskulären Nutzen?

PD Dr. Claudio Perret: Wir konnten in einer Studie zeigen, dass bei Paraplegikern der Blutdruck und auch die Herzfrequenz während des Atemmuskeltrainings steigen. Ein kardiovaskulärer Nutzen ist jedoch nicht gesichert, da es noch keine ausreichende Evidenz dafür gibt. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass das Training bei unseren Patienten den Kreislauf unterstützt und eine entsprechende Anpassung stattfindet, gerade wenn man z. B. aufgrund einer hohen Tetraplegie wenige Möglichkeiten hat, ein herkömmliches Training für den Kreislauf durchzuführen.

Dr. Corina Schaer: Welche Formen des Atemmuskeltrainings setzen Sie ein? PD

Dr. Claudio Perret: Grundsätzlich wird zuerst geschaut, welches Problem vorliegt. Wenn das Abhusten erleichtert werden soll, dann ist ein inspiratorisches Krafttraining die erste Wahl – für ein Training mit einem Ausdauerathleten wählen wir eher das Ausdauertraining. Neue Geräte bieten beide Trainingsformen und auch Auswertungsmöglichkeiten in einer App an, was natürlich für den Anwender sehr motivierend ist.

Mehr zum Atemmuskeltraining mit dem Idiag P100 finden Sie hier.

Den Originalartikel aus der Body LIFE finden Sie hier.